Epilog
Ritorno – Die Rückfahrt…
Es war eine richtig schöne Zeit, ich habe sie genossen. Habe eben eingecheckt, sitze in einem bequemen Sessel und warte auf das Boarding. Meine Gedanken schweifen ab, mein Blick ist auf das Buch in meiner Hand gerichtet aber ich nehme es nicht mehr war; ich träume. Von der Wärme des Landes und dem Meer. Naja, und das obwohl meine Oma immer gesagt hat: „Kind, überall ist es schön, aber zuhause ist es am Schönsten…“. Zuhause, da werde ich bald wieder sein…
Ein lautes, metallisches Scheppern reißt mich aus meinem Tagtraum. Schnell versuche ich zu lokalisieren wo das herkommt. Der riesige Steh-Ascher, gleich neben der Türe zur Gangway. Und daneben, ja daneben, da sind sie wieder. Sie, das heißt diese Familie. Familie ist vielleicht das falsche Wort. Sie sind scheinbar eine Mischung aus Adams-Family und den Kellys (rein kleidungstechnisch). Das Ganze gepaart mit einer ordentlichen Portion Antiauthorität. Ein scheinbar teilnahmslos ins Leere blickender Vater. Die Mutter, mit einer wolldeckenähnlichen „Stola“ um den schlanken Körper gewickelt. Zwei „größere Kinder“, Mädchen, schätzungsweise 14 und 16 (sie stehen ebenfalls teilnahmslos herum und sollen auch für den weiteren Verlauf meines Rückfluges keine Bedeutung haben) und drei Kleine. Das Jüngste trägt die Mutter in einem Babytuch vor der Brust. Das Kind ist so klein das es mir scheint sie hätte es eben erst auf der Flughafentoilette zur Welt gebracht. Der „Mittlere“ ist höchstens 4 Jahre und hebt permanent alles auf was er auf dem Boden findet um es dann in seinem Mund verschwinden zu lassen. Es ist nicht so, dass ihn irgendjemand daran hindern würde. Dementsprechend sieht auch die Region rund um seinen Mund aus. Schwarz. Um das vorwegzunehmen, er heißt Torben.
Und dann „Raahaalf“. Raahaalf heißt sicherlich Ralf, wird aber permanent „Raahaalf“ gerufen. Er ist ca. 6 oder 7. Und eben dieser Raahaalf warf wohl eben diesen Ascher um.
„Raahaalf! Wir schauen doch mit den Augen und nicht mit den Händen, ja Raahaalf?!“ „Sie mal, jetzt liegt alles auf dem Boden! Raahaalf! Hilfst Du der Mutti das wegzuräumen!“
Ralf scheint seine Mutter nicht hören zu können, denn er ist schon lange gegenüber an der langen Sitzreihe und versucht ob man diese wegziehen kann obwohl ein älterer Herr auf ihr sitzt. Ich blicke wieder auf mein Buch. Jetzt nur nicht die Aufmerksamkeit dieses Jungen erregen.
16:40 Uhr, Boarding. Die Flügeltüren zur Gangway gehen auf. „Raahaalf!“ Höre ich es wieder rufen. „Raahaalf…“ Ralf war wohl schon im Flugzeug… Zügig verschwinden alle Leute durch den Gang. Ich schaue noch mal auf meine Platzkarte, suche und finde meinen Sitz schnell. Ich sitze am Fenster, blicke raus, als ich es plötzlich wieder höre: „Raahaalf! Komm zurück Schatzi! Hier sitzen wir!“ Richtig! NEBEN MIR! Mir läuft es heißkalt den Rücken runter. Noch habe ich es nicht gewagt neben mich zu blicken. Stur sehe ich aus dem Fenster.
„Du, der Ralf kann sich doch mit Torben in einen Sitz setzen, hier neben dich, oder?“ „Dann kann er ein wenig aus dem Fenster sehen, gell? Raahaalf, das macht Dir doch bestimmt Spaß!“
Fast vorsichtig sehe ich neben mich, sehe wie diese Monsterfamilie ihre Unmengen von Handgepäck in den Fächern zu verstauen versucht. Von Ralf keine Spur. Nur Torben! Torben sitzt bereits neben mir und hat entdeckt das man die Bezüge von den Kopfstützen abbekommt und – richtig – auch in den Mund nehmen kann. Der Vater setzt sich außen, an den Gang – und plötzlich kommt „er“ angeschossen. Ralf. Es ist nicht so, dass er Notiz davon zu nehmen scheint das ich hier sitze, als er mit einem Satz quer über die Sitzreihe springt um aus dem Fenster zu sehen. Ich habe ihn also regelrecht auf dem Schoss, sehe erschrocken den Vater an. Der sieht mich zwar an, sieht mich aber wohl nicht. Der Ärmste, ich kann es ihm nicht verdenken. Na gut, ehe ich überlegen kann wie es weitergeht ist Ralf schon wieder weg.
Das Flugzeug startet. Meine Gedanken sind bei – bei Ralf – er hat unbemerkt Besitz von mir ergriffen. Wo mag dieses scheußliche Kind jetzt sein? Schließlich hat das Flugzeug gerade abgehoben. Ich sehe hinüber zum Vater, beuge mich leicht nach vorn und sehe die Mutter, das Kleinste im Arm; aber eben nicht Ralf.
Als wir unsere Flughöhe erreicht haben bekomme ich Antworten auf meine stummen Fragen.
Eine Stewardess kommt – mit Ralf – freundlich lächelnd und sagt: „Der kleine Racker hatte sich in der Küche versteckt.“ Nach einer halben Stunde ist es Torben furchtbar schlecht. Er übergibt sich. Mehrmals. Nein, nicht in eine Tüte, auf den Sitz vor sich, der zum Glück leer ist. Dieser säuerliche Geruch macht sich im Flieger breit. Der Vater versucht mit einer Stewardess, die Spuren zu beseitigen. Die Mutter stillt gerade den Kleinen. Natürlich nicht einfach so, nein der Arm ihres Sitznachbarn muss herhalten, sicherlich ungefragt liegt ihre große, rechte Brust in der Armbeuge des Mannes dem das augenscheinlich ziemlich unangenehm ist. Das Kind trinkt zwar an der anderen Brust aber irgendeinen Grund wird die Frau schon gehabt haben, dass sie beide Brüste entblößte.
„Raahaalf! Raahaalf! Du Dieter, geh doch mal nachsehen, ich glaube der Ralf ist wieder nach vorne.“ Dieter steht wortlos auf. Mein Blick bleibt an Torben hängen. Er ist kalkweiss. Dann wandert mein Blick hinüber, zur Mutter. „Werfen sie kurz einen Blick auf den Kleinen, mein Mann sucht nur unseren Ralf:“ lächelt sie. Wieder sehe ich zu Torben. Ich sehe wie er plötzlich anfängt häufig zu schlucken, er wird sich wieder übergeben müssen, denke ich, schnell wusele ich eine dieser berühmten Papiertüten vor mir aus dem Netz am Sitz, ich öffne sie und halte sie Torben vor den Mund. Mit vollem Erfolg. Ich frage mich was dieses Kind heute schon alles runtergeschluckt hat von dem was in seinem Mund landete. Die Tüte jedenfalls ist gut gefüllt. Torben lächelt. Scheinbar geht es ihm nun besser. Wie eine Trophäe hält der die Speitüte fest umschlossen auf seinem Schoss. Mir wird schlecht. Ich sehe aus dem Fenster.
Ralf findet auf diesem Flug so einiges heraus. Zum Beispiel, dass es niemand lustig findet wenn er sich am großen, orangen Hebel der Bordtüre des Flugzeuges zu schaffen macht. Auch nicht wenn er es noch so oft versucht. Ebenfalls weiß er nun, dass das Wasser für den Tee, welches die Flugbegleiterinnen ausschenken wirklich kochend heiß ist! Also genaugenommen weiß nicht Ralf das, sondern der Herr zwei Reihen vor mir. Auch stimmt es was die Stewardess Ralf gesagt hat. Die Netze an der Wand sind Schlafkojen für ganz kleine Kinder. Ralf ist schon zu schwer und das Netz könnte reissen. Das tat es auch. Ralf verstand es nicht, dass sich in keiner der drei Toiletten an Prospektmaterial der Fluggesellschaft hinabspülen lies. (Was zur Folge hatte, das die Toiletten die letzte halbe Stunde des Fluges nicht mehr zu benutzen waren). Ebenfalls erstaunlich war für Ralf, dass der Wagen mit den Duty-Free Klamotten doch umstürzen konnte und noch erstaunlicher aber dennoch lustig war es, das so gut wie nichts dabei im Wagen blieb. „Raahaalf! Jetzt pass aber mal auf was Du machst Schatz!“
Ich sah den Vater an. Warum sagte er nichts? Wie kann er das alles so hinnehmen? Ich erwartete, dass er irgendwann ausrastet und das Flugzeug in seine Gewalt bringt. Ich hätte seine Forderungen gekannt! (und verstanden!) „Raahaalf! Also hör mal!“ Das war das einzige was die Mutter sagte als er freudestrahlend mit einen Haarteil oder Toupet ankam. Die Krönung war jedoch als ihn einer der Piloten nach hinten brachte und mit den Worten „Ich glaube der Junge will auch Pilot werden“ Das formulierte er mit einem gequälten Lächeln und ging wieder nach vorn. Entsetzt sehe ich aus dem Fenster.
Wir landen. Ralf soll sich neben Torben und somit auch neben mich setzen, und tut das auch. Nachdem er den Kotzbeutel in den Händen seines Bruders – Torben hielt ihn tatsächlich immer noch fest – entdeckt hatte schaffte er es, in einer einzigen, absolut geschmeidigen Bewegung diese Kotztüte an sich zu reißen um mit der anderen Hand kräftig darauf zu schlagen. Bekanntlich macht man so was mit aufgeblasenen Brötchentüten. Das knallt dann laut.
Zu erklären was jetzt und hier passiert ist erspare ich mir!
Wir sind gelandet, nur noch raus hier. Ich kämpfe mich am Gepäckband nach vorn. Tatsächlich finde ich schnell meinen Koffer. Endlich draußen, ich atme tief ein und steige in ein Taxi. Ich sehe aus dem Fenster als der Fahrer losfährt, sehe noch wie diese schrecklich nette Familie aus dem Flughafengebäude kommt. Mein Blick fixiert sie. Wie in Zeitlupe entferne ich mich von ihnen. Sehe, wie sie alle dort am Taxistand stehen. Außer Ralf, der klettert hinten auf den Gepäckwagen herum. Einen kurzen Moment, ja nur einen ganz kurzen Moment überlege ich Ralf’s Vater in eine neue Welt, in eine Welt ohne Ralf entführen soll…